Wiedergutmachung?

Der Bundesrat hat vor kurzem ein Bundesgesetz in die Vernehmlassung geschickt, wonach Opfer von Fremdplatzierungen, fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und behördlicher Willkür zur Anerkennung des geschehenen Unrechts vor 1981 einen Solidaritätsbeitrag erhalten sollen. Dazu stellen sich ein paar Fragen?

Gehen wir davon aus, dass es behördliches Unrecht und behördliche Willkür nur vor 1981 gab? Oder waren die Behörden und Verwaltungen vor 1981 unprofessionell, laien- und fehlerhaft, und sind jene von heute hocheffizient, professionell und sozial kompetent, wie es in den Diskussionen um das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht immer wieder zu hören war? Oder geht es nicht einfach darum, Fehler der Verwaltungen und Behörden bzw. des Staates einzugestehen, die Verantwortung für Fehler zu übernehmen und sich für Fehler zu entschuldigen?

Zu einer Wiedergutmachung gehören meines Erachtens nicht nur eine Entschuldigung und eine Entschädigung. Vielmehr muss in unserer Gesellschaft und insbesondere in der Politik auch der Wille und die Bereitschaft reifen, Unrecht und behördliche Willkür zu vermeiden und zu bekämpfen. Und genau bei dieser Frage sind wir tief im Mittelalter stecken geblieben. Anders ist nicht zu erklären, weshalb heute jede Person anonym und ohne persönlichen Folgen eine sogenannte „Gefährdungsmeldung“ absetzen und damit einen unliebsamen Verwandten oder Nachbarn „verpfeifen“ kann. Und noch schlimmer: Gegen den Willen von Betroffenen kann die Urteils- und Handlungsfähigkeit nach wie vor eingeschränkt werden.

Aber einmal mehr wollen wir offensichtlich nicht hinhören und hinschauen. Kürzlich las ich die unbequeme und medial massiv gescholtene Forderung: „Wir brauchen keine Arisierung des geistigen Denkens und der persönlichen Freiheiten“. Um was geht es? Wer die Freiheit liebt, anders denkt und anders leben will als die Allgemeinheit ist noch lange kein lästiger Aussen­seiter und muss noch lange nicht durch das Gesetz beschränkt werden. Unter­schie­de sind ein Zeichen für Freiheit und letztlich eine Folge von Freiheit. Denn Freiheit ist auch eine Anerkennung der Tatsache, dass jede Person etwas Besonderes ist. Durch diese Besonder­heiten der Menschen kann die kulturelle Vielfalt und das moralische Fundament in unserem Land wachsen.

Mein Fazit: Eine Wiedergutmachung für historisches Unrecht ist dann beendet, wenn solches nicht mehr passiert.

 

23. Juli 2015                                                                                        Nationalrat Dr. Pirmin Schwander, Lachen

 

Wiedergutmachung?