Virale Achtungsstellungen

Am 16. März 2020 hat der Bundesrat die «ausserordentliche Lage» gemäss Epidemiegesetz beschlossen. Und damit das öffentliche Leben und die halbe Wirtschaft stillgelegt. Dabei erstaunt, wie die Achtungsstellungen vor den Entscheidungen des Bundesrates viral um die Schweiz gingen und ausnahmslos alle Parteien in den Bann zogen:

  1. Virale Achtungsstellung vor der «ausserordentlichen Lage»
    Weder in der Bundesverfassung noch im neuen Epidemiegesetz (in Kraft seit 2016) gibt es Kri­terien, nach welchen festgelegt ist, wann eine «ausserordentliche Lage» eintritt bzw. aus­gerufen werden soll und kann. In der Medienmitteilung vom 16. März 2020 schreibt der Bun­desrat: «Er (der Bundesrat) stuft die Situation in der Schweiz neu als ausseror­dentliche Lage» gemäss Epidemiegesetz ein.» Wie kann der Bundesrat etwas «ein­stufen» wenn es keine Kriterien, keine Hinweise, rein gar nichts gibt? Einzig und allein das Beispiel «Spanische Grippe 1918» (Worst-Case-Pandemie) ist in der bundes­rätli­chen Botschaft zu finden. Folglich hat der Bundesrat die «ausserordentliche Lage» schlicht und einfach «beschlossen».

    Lösungsansatz
    Das Parlament hat am ersten Sondersessionstag diese konstitutionelle Fehlkonstruktion zu korrigieren und die bundesrätlichen Massnahmen per sofort in die «besondere Lage» umzupolen und anzupassen, mit allen rechtlichen Konsequenzen.

 

  1. Virale Achtungsstellung vor der «Unvorhersehbarkeit»
    In der Botschaft zum Epidemie­ge­setz schreibt der Bundesrat: «Das konstitutionelle Not­standsrecht erlaubt es dem Bundesrat, bei unvorhersehbaren schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit, die eingetreten sind oder unmit­telbar drohen, die adäquaten Massnahmen rasch und fallspezifisch anzuordnen.» Be­kanntlich ist SARS (als Beispiel unter der «besonderen Lage» aufgeführt) seit 2003 be­kannt. An­fangs 2019 wurde vor einer erneuten Corona-Pandemie gewarnt. Ende 2019 wurde der unbekannte, SARS-ähnliche Erreger der Weltge­sund­­heitsorganisation WHO gemeldet. Seither wurden laufend neue Erkennt­nisse publiziert und waren für alle ein­sehbar. Also auch unter dem Titel «Unvorhersehbarkeit» findet das bundesrätliche Not­standsrecht keine verfassungsmässige und gesetzliche Grundlage.

    Lösungsansatz
    Das Parlament hat den Bundesrat an der nächsten Sondersession zu verpflichten, bei schweizweiten Eingriffen in das öffentliche Leben und in die verfassungsmässige Ord­nung das Parlament (notfalls die Finanzdelegation) einzubeziehen, und zwar vor der Orientierung der Öffentlichkeit.

 

  1. Virale Achtungsstellung vor dem neuen Virus
    Der Bun­des­rat führt in seiner Botschaft zum Epidemiegesetz die «moderate Influenza­pandemie» und sogar  «SARS» als Beispiele unter der «besonderen Lage» auf. Er warnt vor den jährlich 70 000 therapieassoziierten Infektionen in Spitälern, welche jährl­ich «bei­nahe 2000 Todesfälle» verursachen. Zudem verpflichtet das neue Epidemie­gesetz Bund und Kantone, Gefährdungen und Beein­trächti­gungen der öffent­lichen Ge­sundheit früh­zeitig zu erkennen und zu begrenzen und entsprechende Massnahmen zu treffen. Die gerade­zu sture Ignoranz der Erkenntnisse in asia­ti­schen Ländern, die feh­len­de Verfüg­barkeit von medizinischem Material und Infrastrukturen und von zuver­läs­sigen Daten erlauben keinen Frei­pass zu notrechtlichen Wildwestmethoden.

    Lösungsansatz
    Das Parlament muss den Vernachlässigungen der gesetzlichen Verpflichtungen selbst nach­gehen und diese schonungslos aufzeigen. Ebenso ist der Bundesrat zu verpflich­ten, Reihenuntersuchungen und Autopsien anzuordnen. In einem Umfeld von resisten­ten  Erregern ist die Feststellung der finalen Todesursache unabdingbar (auch für eine allfällige zweite Welle und für allfällige Spätfolgen).

 

  1. Virale Achtungsstellung vor den Defiziten der öffentlichen Haushalte
    In den letzten zwei Jahrzehnten – und immer auch im Zusammenhang mit den bilate­ra­len Verträgen zwischen der Schweiz und der EU – wurde gebetsmühlenartig gepredigt, wie «robust» doch unsere Schweizer Wirtschaft ist. Und plötzlich, über Nacht, bittet die gleiche «robuste» Wirtschaft um Unterstützung in unbegrenzter Höhe, und dann noch im Giesskannenprinzip, begleitet vom juristischen und peinlichen Hickhack um die Selb­stän­digen. Und es werden lieber enorme, unbegrenzte Defizite der öffentlichen Haus­hal­te in Kauf genommen statt sofort die Aufhebung der «wirtschaftlichen» Einschränkungen zu fordern. Die gesprochenen Hilfspake­te und auch die dringend notwendige Unter­stützung der Selbständigen können die Konjunktur­einbrüche bestenfalls etwas verlang­samen aber nicht bremsen.

    Lösungsansatz
    Die Verantwortlichen auf allen drei Staatsebenen müssen sich ab sofort prioritär um die sozialen Folgen des Notrechts und um den neuen «Verteilkampf» kümmern. Und das Bun­desparlament hat sofort die verfassungs- und gesetzmässigen Voraussetzungen zu schaffen, notfalls den «Corona-Batzen» als «fixe, landesinterne Währung» einzuführen.

 

Fazit

Die viralen Achtungsstellungen führen vor Augen, dass unsere politischen Gepflogenheiten nicht so stabil sind, wie sie jeweils an 1. August-Feiern bejubelt werden.

 

19.04.2020                                                                                                        Nationalrat Pirmin Schwander

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