Das wahre Gesicht

Nach den Gesamterneuerungswahlen vom 23 Oktober 2011 war ich gespannt auf die neuen Kräfteverhältnisse im Parlament. Doch kaum war am letzten Montag der Eid und das Gelübde auf unsere Bundesverfassung abgelegt, hat der neu zusammengesetzte Nationalrat das wahre Gesicht gezeigt. So offensichtlich, dass ich über nichts anderes berichten kann und muss. Am Dienstag hat der Nationalrat mit 94 zu 86 Stimmen die Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit befürwortet. Damit wird das heutige, erfolgreiche Staatsverständnis in Frage gestellt und ausser Kraft gesetzt. Um was geht es? Heute müssen Behörden in Bund und Kantonen und auch das Bundesgericht die vom Parlament und Volk beschlossenen Bundesgesetze auch dann anwenden, wenn sie ihrer Meinung nach einer Vorschrift in der Bundesverfassung widersprechen. Warum ist das so? Einerseits haben Parlament, Bundesrat und Bundesverwaltung die Aufgabe, nur verfassungskonforme Bundesgesetze zu erlassen, alles andere ist Willkür und verfassungswidrig. Andererseits geht es beim Erlass von Bundesgesetzen um eine Konkretisierung der Bundesverfassung, und das Volk kann jederzeit mit obligatorischen und fakultativen Referenden allfällige verfassungswidrige Bundesgesetze bekämpfen und wieder ausser Kraft setzen. Selbst bei Widersprüchen zwischen den Bundesgesetzen und der Bundesverfassung oder innerhalb der Bundesverfassung selbst entscheiden heute die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Im diesem heutigen Staatsverständnis fällt also dem Souverän und der Bundesversammlung die höchste Stellung im Staatsgefüge zu. Die Behörden (Exekutive) haben dem Souverän, dem Volk zu dienen und die Gerichte (Judikative) haben die Entscheide der Behörden zu überprüfen, nicht aber diejenigen des Stimmvolkes.

Nun kommt der neu zusammengesetzte Nationalrat, plädiert für eine neue Balance zwischen Rechtsstaat und Demokratie und will das direktdemokratische und föderalistische Schweizer Modell kippen. Immer das gleiche Spiel: Mehr Macht für die Behörden durch die sogenannten Metropolitanräume und Naturpärke, mehr Macht für die Gerichte durch das Völkerrecht und die Europäische Menschenrechtskonvention und Ausschalten des Volkes und unserer Demokratie unter dem Vorwand von Grund- und Menschenrechte. Die entscheidenden Fragen bleiben aber nach wie vor: Wer bestimmt, was Recht ist? Wer entscheidet, was der demokratische Verfassungsgeber, das Volk darf und was nicht? Gibt es ein besseres Organ als das Volk selbst? Natürlich gibt es Volksentscheide, die ich persönlich lieber anders gesehen hätte. Schengen und Personenfreizügigkeit und die verheerenden Folgen lassen grüssen. Aber das ist bei Gerichtsurteilen nicht anders, und erst recht nicht anders ist es bei Feststellungen durch Ethikkommissionen oder gar durch die Rassismuskommission. Zu glauben, die Meinungen von Richter- und Expertengremien seien besser als diejenigen der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger oder die einzig rechtstaatlich vertretbaren, zeugt von Arroganz und Hochmut. In jedem Staat muss jemand das letzte Wort haben, was letztlich gelten soll und was nicht. Auch wenn mir einige Volksentscheide nicht passen, ich vertaue der Urteilskraft des Volkes mehr als einer staatlichen und international verschworenen Gerechtigkeitsexpertokratie. Auch Professoren und Richter sind nicht frei von Fehlern und schon gar nicht sind sie unabhängig und wertneutral. Das wahre Gesicht des neuen Parlamentes muss korrigiert werden. Ich freue mich auf diese Herausforderung und danke meinen Wählerinnen und Wählern einmal mehr, dass ich das auch weiterhin tun darf.

 

10. Dezember 2011                                            Nationalrat Dr. Pirmin Schwander, Lachen
 

Das wahre Gesicht